Nach fünf Tagen verlassen wir die Rangerstation und tuckern noch tiefer in den dichten Dschungel. Am Abend macht die Ayapua an einem dicht bewachsenen Ufer Halt: direkt neben dem Boot erhebt sich mächtig der Urwald und nur ein kleiner Steg führt vom Schiff aus direkt in das grüne Dickicht.
Über diesen Steg balanciere ich auch am nächsten Morgen in meinen Gummistiefeln, um zu meinem letzten „Terrestrial Transect“ zu starten: dabei bewegen wir uns auf einem schmalen Pfad langsam durch den dichten Wald und vermerken sämtliche Affen und größere Vogelarten, die dabei gesichtet werden, auf unserem Klemmbrett.
Ich bin zwar froh, mal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, aber schon nach ein paar Minuten ist jeder von uns in eine Moskito Wolke gehüllt. Die kleinen Blutsauger lassen sich von so simplen Dingen wie Moskitosprays nur maximal fünf Minuten abschrecken. Da hilft nur, möglichst viele Körperstellen zu bedecken und regelmäßig mit den Händen vorm Gesicht zu wedeln. Oder man hat auch noch ein Netz über das Gesicht gespannt wie Ricky, der sich außerdem noch in seine Regenjacke gehüllt hat: sicher ist sicher!
Ablenkung bieten die Hinweise unserer einheimischen Begleiter, die immer wieder auf kleinere Eidechsen oder Minifrösche aufmerksam machen oder auf kleine Tamarin Monkeys hoch oben in den Zweigen deuten. Oder wir sichten die putzigen Brown Capuchin Monkeys, die sich behände von Ast zu Ast schwingen.
Nach einer Stunde wird auch die Hitze immer größer und ich weiß nun, warum man in einigen Büchern von der „grünen Hölle“ lesen kann. Die Luft steht unter dem grünen Dach der Urwaldriesen, über denen die Sonne am blauen Himmel strahlt. Ricky vor mir in seiner Regenjacke produziert schon kleine Schweißbäche, die sich den Weg entlang seiner Hosenbeine suchen. Und auch die Blattschneide-Ameisen haben sich eine kleine Straße entlang unseres Pfades gebaut. Fasziniert beobachte ich die kleinen grünen Blattschnipsel, die sich wie von Geisterhand über den Urwaldboden bewegen.
Rechts von uns hebt plötzlich ein fürchterlicher Lärm an: große blau-gelbe Aras haben gar nicht weit von uns Station auf einem Baum bezogen. Wunderschön in ihren leuchtenden Farben sind diese Papageien, die sich wie Könige des Dschungels aufführen.
Ein paar Meter weiter auf einer kleinen Lichtung bleibt Ormeño stehen und deutet auf ein paar Spuren im feuchten Lehm: Ozelot Spuren. Diese schon sehr seltene und äußerst scheue Raubkatze ist hier nur sehr selten zu sehen. Selbst Ormeño und seine Kollegen haben bis jetzt erst ein Exemplar mit eigenen Augen in diesem Gebiet beobachtet. Die Bilder der Kamera Traps, die uns Richard am Abend zeigt, beweisen aber, dass doch noch einige dieser schön gemusterten Katzen das Gebiet durchstreifen. Die beiden Pfotenabdrücke, auf die Ormeño zeigt, sehen harmlos aus, aber wir stehen trotzdem ehrfürchtig davor und beobachten am weiteren Weg aufmerksam das grüne Dickicht rechts und links von uns.
Und weiter geht es langsam auf dem schmalen Weg. Als ich als dritte in der Reihe über einen ca. einen halben Meter hohen Baumstamm steige, der über dem Weg liegt, bemerke ich rechts von mir eine Bewegung auf dem Stamm. Mein Blick erhascht gerade noch den braun-gelben Körper, der sich vom Baumstamm schlängelt. „Snake!“ rufe ich und sofort stehen alle neben wir und starren in die Richtung meines Fingers. Ormeño biegt mit seinem Buschmesser die Zweige auseinander: und da liegt sie noch, die etwas 50 cm lange Schlange und regt uns ihren kleinen Kopf entgegen. Eine „Fer-de-lance“ wie Chris erklärt, deren Biss auf jeden Fall tödlich ist. Mit respektvollem Abstand machen wir unsere Fotos, erheben dann aber Einspruch als Ormeño sie mit dem Buschmesser töten will. Später erfahre ich, dass man angeblich als dritter oder vierter in der Reihe die größten Chancen hat, von einer dösenden Schlange am Weg gebissen zu werden: der erste weckt sie auf, beim zweiten hebt sie den Kopf und beim dritten beißt sie dann zu. Das letzte Stück des Weges bin ich noch vorsichtiger unterwegs und kontrolliere jede Stelle am Boden bevor ich meinen Fuß hinsetze.
Das Wasser, das immer wieder zwischen den Bäumen am Weg auftauchte, wird immer mehr und schließlich steht es am Weg bis zu den Rändern unserer Gummistiefel. Wir müssen wieder umkehren. Um diese Jahreszeit steigt der Wasserstand im Amazonas immer um einige Meter und überschwemmt auch Teile des Urwaldes. Beeinflusst ist dieser Wasserstand allerdings nicht durch Niederschlag am Amazonas, sondern in den weit entfernten Anden. Manchmal sieht man den spitzen Schnabel eines Delfins zwischen den Baumriesen auftauchen. Meistens sind es aber nur kleinere Fische, die zwischen den Baumwurzeln auf Nahrungssuche sind.
Bevor wir den Weg wieder zurückgehen, machen wir noch Rast auf einem umgestürzten Baumstamm – den wir natürlich vorher auf giftige Bewohner untersucht haben. Während ich mich mit ein paar Keksen stärke und mit einer Hand die Moskitos aus meinem Gesicht wedele, beobachte ich fasziniert einen kleinen, blau schimmernden Schmetterling, der sich anscheinend in Chris‘ Fernglas verliebt hat und von einer Stelle zur nächsten flattert.
Am Rückweg bietet uns Ormeño noch eine lokale Spezialität der Gegend an: er holt fette, weiße Maden aus den Früchten der Kakaopflanze: meine beiden männlichen Begleiter wenden sich sofort angeekelt ab, während ich mit mir kämpfe, ob ich es schaffe, in den sich noch bewegenden Körper reinzubeißen (da diese Maden anscheinend Kakao schmecken). Aber den Kampf verliere ich schließlich und Ormeño darf alle Leckerbissen selber verspeisen.
Zurück in meiner Kabine muss ich erst mal für eine Stunde die Klimaanlage aufdrehen, damit mein Körper wieder auf eine normale Temperatur runtergekühlt wird. Ich liege bewegungslos am Bett, spüre die Moskitostiche in meinem zerstochenen Gesicht (heute war die linke Hälfte dran), der Generator brummt leise und wird von der Kakophonie des Dschungels überlagert. Ich bin mittendrin im großen Wunder des Amazonas – und das ist gut so.